Mit 2 PS und Biene in Schlangenlinien durchs Watt

Pfingstferien in Hamburg. „Fahrt ihr in Urlaub?“, werde ich häufig gefragt und immer wieder antworte ich mit ja. „Wohin?“, will man wissen. Ich sage: „Wir bleiben in Hamburg.“ Das irritiert natürlich. In den Urlaub fahren und gleichzeitig in Hamburg bleiben geht ja eigentlich gar nicht. Eigentlich, denn wir fahren nach Neuwerk, das ist ein kleiner Klacks Land im Wattenmeer vor Cuxhaven und der gehört zu Hamburg! Genauer gesagt zum Bezirk Hamburg Mitte. Neuwerk ist das Zentrum des 1990 gegründeten Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer (NPHW), zu dem, neben dem Wattgebiet, auch die beiden von Menschen unbewohnten Nachbarinseln Scharhörn und Nigehörn im Vogelschutzgebiet gehören. Das wusste ich bis dato nicht, obwohl ich in dieser Stadt schon sehr lange zu Hause bin.

Die Unterkunft habe ich bereits im Winter gebucht, von Sonntag bis Sonntag. Unser Plan ist, mit dem Auto bis Cuxhaven zu fahren und von dort aus mit einer Fähre rüber. Drei Wochen vor Ferienbeginn gucke ich im Netz nach der Reederei und wo man parken kann. Da deren Website nicht einwandfrei funktioniert, rufe ich bei denen an. Am Sonntag würde wegen Niedrigwasser gar keine Fähre fahren, erst wieder am Montag. Oh nein! Ich verkürze unseren einwöchigen Urlaub also um einen Tag und buche die Fähre, Hin- und Rückfahrt, vorab bezahlt mit PayPal. Das einzige Schiff am Pfingstmontag soll schon um 9.00 Uhr in Cuxhaven ablegen, wegen der Gezeiten. Für uns heißt das extrem früh aufstehen, nach Cuxhaven fahren, parken und den Anleger finden, alles mit Gepäck und rechtzeitig. Doch so weit kommt es nicht. Einen Abend vorher erreichen mich eine SMS und ein E-Mail, das am Montag auch keine Schiffe fahren. Na toll! Also doch mit dem Wattwagen rüber zur Insel? Das will ich eigentlich vermeiden. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, mit Sack und Pack auf dem Wattwagen durch den Schlick! Aber nun bleibt uns nichts anderes übrig. Glücklicherweise fährt der Wagen erst um 17.15 Uhr los. So müssen wir nicht in aller Herrgottsfrüh aufstehen.

Entspannt kommen wir in Cuxhaven an und dann soll es endlich losgehen. Es ist zwar ein Unwetter mit Starkregen und Gewitter angesagt, aber das kommt dann doch nicht. Ein paar milde Regentropfen bekommen wir vor der Abfahrt ab. Dann drohen nur noch dunkle Wolken am Himmel mit Löchern drin, damit die Sonne auch mal durchgucken kann. Die Kutschen kommen gerade zurück von Neuwerk und die Pferde dampfen. Sie haben überwiegend Tagesgäste ans Festland gebracht. Unser Gepäck wird in einem großen Anhänger, der von einem Trecker gezogen wird, verstaut. In einen weiteren werden Bienenkästen geladen. Einige ihrer Bewohner umkreisen sie. Wir klettern über eine Leiter in den offenen Wattwagen, dann setzt er sich in Bewegung. Die Fahrt ist eine wackelige Angelegenheit. Eine Dame zwei weiter rechts von mir ist andauernd am Jammern. Sie hätte Angst vor Blitz und Donner, das sei ja gefährlich. Regen würde ihr nichts ausmachen. So geht das fast die ganze Strecke über, und für die braucht man ca. 1,5 Stunden.

Wir werden von den Treckern mit den Anhängern überholt. Eine Biene hat sich offenbar verflogen. Sie bleibt jedenfalls an unserem Wagen hängen, umkreist ihn viele Male und setzt sich dann irgendwo im Windschatten zur Ruhe. So kommt sie auch mit auf die Insel. Die Pferde gehen meisten im Gleichschritt. Sie sind gut aufeinander eingestimmt. Durch die Priele ziehen sie den Wagen sehr langsam, deshalb ruckelt es nicht ganz so doll. Auf gerader Strecke verfallen sie wieder in Trab, wobei „gerade“ übertrieben ist. Der Weg führt in Schlangenlinien auf einer durch Pricken gekennzeichneten Strecke durch das Wattgebiet. Das gleichmäßige Aufschlagen der Hufe und das leichte Schwingen des Wagens versetzen mich in eine Art meditativen Zustand. Ich bewundere die Kraft der Tiere, die Gelassenheit des Kutschers, die Landschaft und den Himmel. Wir sind nicht die einzige Kutsche, die nach Neuwerk unterwegs ist. Hinter uns höre ich manchmal die Pferde laut durch die Pfützen patschen, so als würden sie das extra tun, weil es ihnen Spaß macht. Und von vorn kommen uns andere Kutschen entgegen, die noch mehr Leute von der Insel ans Festland zurück bringen, bevor die Flut wieder kommt, die Priele voll laufen lässt und die Wattlandschaft wieder bedeckt. Vereinzelt sind auch Leute zu Fuß mit hochgekrempelten Hosenbeinen unterwegs. Man hat inzwischen mehrere Rettungstürmchen ins Watt gesetzt, für diejenigen, die die Geschwindigkeit, mit der die Flut kommt, und die Kraft des Wassers unterschätzen.

Wohlbehalten kommen wir auf der Insel an. Wir fahren vorbei an den Hängern mit den Bienen und fragen uns, wo unsere Biene wohl abgeblieben ist. Kurz bevor wir bei unserer Unterkunft ankommen, erwacht sie aus ihrem Schlaf und fliegt los. Bestimmt findet sie die anderen, denn so viele gibt es anscheinend nicht auf der Insel, sonst müsste man sie ja nicht importieren.

Wir beziehen ein Zimmer mit Aussicht über den Deich auf den Radarturm und das Vorland, welches Rastplatz für Wattvögel ist. Zur Zugzeit rasten hier jede Menge Ringelgänse und zur Brutzeit ist es Nistplatz von Seeschwalben, Möwen, Enten, Austernfischern, Löfflern und vielen anderen Vögeln und gehört zur Schutzzone I. Die Salzwiesen werden von Prielen durchzogen und gehen in den Lahnungsfeldern, das sind Uferschutzanlagen, in das Watt über. Im Übergang vom Ostvorland zum Nordvorland steht die Ostbake. Sie wurde in der Nacht zum 19. Januar 2007 vom Orkan Kyrill zerstört und war über Jahrhunderte neben dem Leuchtturm das zweitwichtigste Wahrzeichen Neuwerks. Durch Spenden und Mittel aus dem Konjunkturpaket 2 wurde sie im Jahr 2009 wieder aufgebaut und gehört für Inselurlauber zur Neuwerker „Skyline“. Bernsteinsucher und Wattwanderer schätzten sie als Orientierungspunkt.

Weil sich das Halten von Schafen nicht mehr lohnt, wurden sie auf der Insel abgeschafft. Daher mäht man hier das Gras auf den Deichen.

Die Insel ist etwa drei Quadratkilometer groß und lässt sich gemäßigten Schrittes locker in zweieinhalb Stunden umrunden. Auch durch das Brutgebiet darf man gehen, wird allerdings auf Schildern darauf hingewiesen, ausschließlich die gekennzeichneten Wege zu nutzen, da die Brutvögel ihre Nester vehement und nachdrücklich verteidigen. Dies geschieht häufig mit viel Geschrei, zum Beispiel wenn Raben sich an dem „gedeckten Tisch“ bedienen wollen. Dieser Teil wird nicht mehr beweidet, aber einige Pferde lässt man dort doch grasen. Die vertragen sich aber mit den Vögeln.

Wer nun denkt, dass dies alles ist, was die Insel zu bieten hat, täuscht sich. Eine Woche lang kann man hier jeden Tag etwas anderes kennenlernen. Bei schönem Wetter klettern wir den Neuwerker Leuchtturm hinauf. Er ist das bedeutendste Bauwerk der Insel. Der 1310 fertiggestellte ehemalige Wehr-, Wohn- und Leuchtturm ist das älteste Profanbauwerk der gesamten deutschen Küste. Über 118 Stufen in einem sehr schmalen, spiralförmigen Treppenhaus zähle ich. Oder waren es mehr? Ich denke zwischendurch, ich komme nie an, denn jede Ebene sieht gleich aus. Doch der Aufstieg hat sich gelohnt. Die Rundumaussicht ist grandios. Wieder unten angekommen lese ich ein Schild, auf dem steht, dass es verboten ist den Turm betrunken zu betreten.

Im angrenzenden Herrengarten wird kräftig gemäht. An den Schrägen arbeitet ein kleiner, flacher Mähroboter, der von einem Mitarbeiter der Stackmeisterei ferngesteuert wird.

Neben dem Turm befinden sich das Schullandheim der Hamburger Heinrich-Hertz-Schule und der „Neuwerker Supermarkt“, der Inselkaufmann. Es ist in Wirklichkeit ein überdimensionaler Kiosk, bei dem es auch Fischbrötchen, Kaffee und Kuchen gibt. Draußen hängt ein Schild auf dem steht: „Wir haben alles, was Sie brauchen. Was wir nicht haben, brauchen Sie auch nicht.“ Da kann man drüber nachdenken.

Ein Stückchen weiter im Nationalparkhaus erfährt man Wissenswertes über das Weltnaturerbe Wattenmeer. Zwei ausgestopfte Seehundbabies schauen mich dort mit großen, dunklen Kulleraugen an.

Daneben liegt der „Friedhof der Namenlosen“. Hier wird der Opfer auf See gedacht.

In der „Inselschule“, die schon lange mangels Nachwuchs außer Betrieb ist, befindet sich ein kleiner Laden. Dort bekommt hübsche Urlaubsmitbringsel. Besonders schön finde ich die Originalwerke und deren Reproduktionen der Inselmalerin Heike Brinkmann, die 2018 verstorben ist. Sie hat über viele Jahre fantastische Aquarelle gemalt und damit das Licht, die Landschaft und die Farben der Insel eingefangen. Ich kaufe mir ein paar solcher Postkarten.

Auf dem Weg zu unserer Unterkunft liegt das Bernsteinmuseum. Der Begriff „Museum“ ist sicherlich übertrieben. Wir betreten den Vorgarten eines kleinen Einfamilienhauses und sollen eine Mobilnummer anrufen, falls niemand öffnet.

Dann steht ein großer Mann in der Tür und heißt uns willkommen. Eintritt 3,- € lese ich. Der Mann führt uns ins Wohnzimmer des Hauses. In der Mitte steht ein großer Tisch, der komplett mit Bernsteinen jeglicher Formen, Farben und Größen bedeckt ist. Es gibt sogar einen Roten! In den umliegenden Vitrinen und Regalen liegen weitere Exemplare und an den Wänden hängen Bilder und Kunstwerke aus Bernstein, außerdem viele gerahmte Familienfotos. Der Mann beginnt zu erzählen, von seinen Eltern, die 1971 auf die Insel kamen und dass sein Vater der Insellehrer war, vom Hobby des Vaters Bernstein zu sammeln und der Mutter, die einige Steine schliff und polierte. Er erklärt uns die verschiedenen Beschaffenheiten und Einfärbungen der Steine und wo man am besten suchen sollte, wenn man selbst auf die Bernsteinjagd gehen möchte. Ich bin beeindruckt von der Vielfalt und Schönheit des gesamten Fundus. Natürlich kann man auch Schmuckanhänger kaufen, aber das lass ich lieber, ich habe schon genug.

Hier auf der Insel kann man auch im Heu schlafen. Viele Hotels bieten dies ihren Gästen an. Genutzt wird es gerne von Familien, denn für Kinder ist das ein großes Erlebnis. Ich traf eine ältere Dame, die sich mit ihrem Enkel, er mit zwei Wasserpistolen bewaffnet, in dieses Abenteuer stürzte.

Kulinarisch bieten die Restaurants hauptsächlich Gerichte mit frischem Fisch an. Alternativ kann man auch Pommes und Burger kriegen.

Es gibt auch noch ein Schullandheim und einen Campingplatz, aber das inspizieren wir nicht alles. Lieber laufen wir auf dem Deich entlang und auf den Wegen durch die Salzwiesen, atmen die saubere jodhaltige Nordseeluft und beobachten die Vögel. Ihre typischen Schreie, Gezwitscher kann man das ja nicht nennen, gehören zur Landschaft und begleiten uns von morgens bis abends. Hier kann man richtig entspannen und sich von der Großstadthektik erholen. Wenn die Sonne scheint singt, die Feldlerche hoch am Himmel, die Schwalben segeln vorbei, ab und zu hoppelt ein Feldhase über den Deich und manchmal laufen die Hasen mit den Pferden um die Wette. Hin und wieder sehen wir Menschen mit schweren Fotoausrüstungen bepackt durch die Landschaft ziehen. Es sind wahrscheinlich Ornithologen, gefragt haben wir nicht.

Nach einer Woche geht es dann wieder zurück, mit dem Wattwagen natürlich, aber ohne Biene. Wo die Honigsammler wohl abgeblieben sind? Diesmal müssen wir früh raus, denn wegen der Gezeiten fährt die Kutsche schon um 7.30 Uhr los. Die Sonne scheint gleißend und wir werden wieder durch das Watt geschaukelt. Wehmütig blicke ich hinter mich. Ich kann mir tatsächlich vorstellen, einmal etwas länger zu bleiben.

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